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3. Lebenslagen der Adressat:innen von Hilfen zur Erziehung

3.2 Transferleistungsbezug

Verschiedene Studien weisen seit geraumer Zeit darauf hin, dass Armut und die damit verbundenen prekären Lebenslagen Risiken für die Erziehung beinhalten.1 Länderspezifische Analysen – wie im HzE-Bericht des Landes Nordrhein-Westfalen oder im Landesbericht in Rheinland-Pfalz – verweisen zudem auf den Zusammenhang zwischen Armutslagen junger Menschen und der Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung.2

In der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik kann als Indikator für prekäre Lebenslagen der Bezug von Transferleistungen abgebildet werden. Berücksichtigt werden hierbei das Arbeitslosengeld II auch in Verbindung mit dem Sozialgeld (für Kinder), die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Rahmen der Sozialhilfe sowie der Kinderzuschlag. Diese Angaben liefern Hinweise zur Inanspruchnahme von erzieherischen Hilfen durch Familien, die zumindest von Armut bedroht sind. Und in der Tat bestätigen die Ergebnisse der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik die Hypothese, dass es einen Zusammenhang von Armutslagen und einem erhöhten Bedarf an Leistungen der Hilfen zur Erziehung gibt.3

Die Analyse der Daten legt dar, dass mehr als jede zweite Familie, für die 2022 eine erzieherische Hilfe (ohne Erziehungsberatung) neu gewährt wurde, auf Transferleistungen angewiesen ist. Bei der Erziehungsberatung sind im Vergleich dazu lediglich 13% der Familien von Transferleistungen betroffen (vgl. Abb. 3.2). Differenziert nach den einzelnen Hilfearten variiert die ausgewiesene Gesamtquote zwischen 41% (Soziale Gruppenarbeit) auf der einen und 67% (Vollzeitpflege) auf der anderen Seite. Im ambulanten Hilfesetting ist für die Tagesgruppe mit 58% der höchste Anteil festzustellen.

Bei einzelnen Hilfearten zeichnen sich mitunter Veränderungen im Vergleich zum Vorjahr ab. So setzt sich der Trend aus dem letzten Jahr fort, indem der Anteil der Familien, die Transferleistungen beziehen, bei neu gewährten Fremdunterbringungen zwischen 2021 und 2022 erneut gesunken ist (-4 Prozentpunkte (PP)), und zwar vor allem bei den stationären „27,2er-Hilfen“ (-6 PP). Auch bei den ambulanten Hilfen zur Erziehung ist der Anteil der Familien, die Transferleistungen beziehen, gesunken (-1 PP).

Das Verhältnis von Familien mit und ohne Transferleistungsbezug erhöht sich noch einmal deutlich im Hinblick auf Familien mit Transferleistungsbezug bei der anteilig größten Gruppe der Hilfeempfänger:innen, den Alleinerziehenden (vgl. hierzu auch Kap. 3.1). 62% der Alleinerziehenden, die eine Hilfe zur Erziehung erhalten, sind gleichzeitig auf staatliche finanzielle Unterstützung angewiesen. Das sind 10 Prozentpunkte mehr als bei allen Familien mit Transferleistungen, die erzieherische Hilfen erhalten. Differenziert nach den beiden Leistungssegmenten zeigt sich folgendes Bild: Im ambulanten Leistungsspektrum ist der Anteil der Alleinerziehenden, die Transferleistungen erhalten, mit rund 67% bei der Tagesgruppe am höchsten. Im Bereich der Fremdunterbringungen weist die Vollzeitpflege mit 74% den höchsten Anteil aus.

ABB. 3.2:

Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Transferleistungsbezug, Alleinerziehendenstatus und Hilfearten (Deutschland; 2022; begonnene Hilfen; Anteil in %)

* Einschließlich der sonstigen Hilfen
Lesebeispiel: 13% aller Familien, die eine Erziehungsberatung erhalten, sind gleichzeitig auf Transferleistungen angewiesen. Von den Alleinerziehenden, die eine Erziehungsberatung nutzen, erhalten 20% Transferleistungen.

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2022; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Bei einer länderspezifischen Betrachtung der Familien mit Transferleistungsbezug in den Hilfen zur Erziehung für das Jahr 2022 werden Unterschiede zwischen den Ländern sichtbar. Generell weisen die ostdeutschen Länder sowohl bei der Erziehungsberatung als auch bei den vom ASD organisierten Hilfen einen höheren Anteil an Familien auf, die finanzielle Unterstützungsleistungen erhalten. Bemerkenswert für Ostdeutschland ist allerdings, dass sich die Quote der Hilfeempfänger:innen mit Transferleistungsbezug in der Erziehungsberatung kontinuierlich auf zuletzt 16% verringert hat (vgl. Tab. 3.2).

Bei den Hilfen zur Erziehung (ohne Erziehungsberatung) liegen die Ergebnisse für Bayern (40%), Baden-Württemberg (43%), Rheinland-Pfalz (46%) und Hessen (50%) unter der für Deutschland ausgewiesenen Quote von Familien mit Transferleistungsbezug in Höhe von 52%. Deutlich über dem Wert sind die Quoten von Hamburg (62%), Thüringen (62%) sowie Sachsen-Anhalt (70%) einzuordnen.

Bei der Erziehungsberatung reicht das Spektrum der Familien, die bei Beginn der Beratung einen Transferleistungsbezug angeben, von 8% in Hamburg bis hin zu 24% in Bremen.

TAB. 3.2:

Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Transferleistungsbezug im Vergleich zu der Mindestsicherungsquote1 in der Bevölkerung (Länder; 2022; begonnene Hilfen; Angaben absolut und in %)

BundeslandFamilien insgesamt in Erziehungsberatungen 2022 (abs.)Darunter Familien mit Transferleistungsbezug 2022 (in %)Familien insgesamt in Hilfen zur Erziehung 2022 (abs.)Darunter Familien mit Transferleistungsbezug 2022 (in %)Mindestsicherungsquote1 am Jahresende 2022
Baden-Württemberg41.16210,820.49342,55,8
Bayern44.09410,517.47340,24,9
Berlin17.03911,416.11056,215,4
Brandenburg9.5789,56.41152,17,5
Bremen1.40223,52.37556,817,6
Hamburg3.8988,18.15261,513,3
Hessen20.72110,810.04850,08,7
Mecklenburg-Vorpommern3.21321,74.61155,58,8
Niedersachsen30.36213,618.57652,08,9
Nordrhein-Westfalen79.75614,948.20352,311,0
Rheinland-Pfalz14.47010,49.92346,27,0
Saarland2.12015,12.28258,910,3
Sachsen17.00215,07.18658,97,5
Sachsen-Anhalt8.06021,95.81569,99,7
Schleswig-Holstein16.49314,26.70253,78,8
Thüringen8.19215,64.12462,47,0
Westdeutschland (einschl. Berlin)271.51712,5160.33750,28,6
Ostdeutschland46.04515,628.14759,68,0
Deutschland317.56213,0188.48451,68,5

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2022 (Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes); für die SGB II-Daten: Statistik der Bundesagentur für Arbeit, Bestand Dezember (https://www.statistikportal.de/de/sbe/ergebnisse/mindestsicherung/b-12-empfaengerinnenund-empfaenger-sozialer; Zugriff: 23.07.2024)

  1. Die Berechnungen der Werte der Mindestsicherungsquote basieren auf den von den Statistischen Ämtern bereitgestellten Absolutzahlen der Empfänger:innen sozialer Mindestsicherungsleistungen sowie den Bevölkerungsdaten des Mikrozensus. Der Wert für Westdeutschland umfasst die westdeutschen Flächenländer und Berlin. Aus diesem Grund existieren Abweichungen hinsichtlich der Werte für West- und Ostdeutschland im Vergleich zu den Angaben der Mindestsicherungsquoten im Statistikportal der Statistischen Ämter.

Werden ferner die Anteile der Hilfeempfänger:innen mit Transferleistungsbezug mit denjenigen in der Gesamtbevölkerung, die eine Mindestsicherung erhalten, verglichen, um annäherungsweise einen Referenzwert hinzuzuziehen, zeigt sich zunächst die besonders sozioökonomisch prekäre Lebenslage von Empfänger:innen erzieherischer Hilfen, die über den ASD organisiert werden. Während im Jahr 2022 52% der Familien, die eine erzieherische Hilfe jenseits der Erziehungsberatung bekommen, gleichzeitig auf Transferleistungen angewiesen sind, erhalten 9% der Gesamtbevölkerung Leistungen der Mindestsicherung (vgl. Tab. 3.2).

Insgesamt betrachtet bildet sich mit Blick auf den Transferleistungsbezug ein ähnliches, wenn auch nicht so deutlich ausgeprägtes Muster bei den Bundesländern wie bereits bei den Alleinerziehenden ab: In den Ländern mit einer hohen Mindestsicherungsquote gibt es tendenziell auch einen höheren Anteil der Transferleistungen beziehenden Familien in den erzieherischen Hilfen. So liegen z.B. die Quoten im Stadtstaat Hamburg sowohl bei der Mindestsicherung als auch bei den Hilfeempfänger:innen mit Transferleistungsbezug jeweils weit über dem bundesweiten Wert. Auf Thüringen trifft dies nicht zu. Hier ist eine unterdurchschnittliche Mindestsicherungsquote und ein überdurchschnittlicher Anteil an Adressat:innen mit Transferleistungsbezug in den Hilfen zur Erziehung festzustellen.

Grundsätzlich zeigt sich in allen Bundesländern eine deutliche Überrepräsentanz der Hilfeempfänger:innen mit Transferleistungsbezug im Vergleich zu der Mindestsicherungsquote. Allerdings fallen auch hier – wie bereits bei den Alleinerziehenden – die Differenzen unterschiedlich aus. Zwischen den beiden Gruppen reichen diese von 35 Prozentpunkten in Bayern bis hin zu 60 Prozentpunkten in Sachsen-Anhalt; d.h. in Sachsen-Anhalt sind die Familien mit Transferleistungsbezug besonders stark überrepräsentiert (vgl. Tab. 3.2).

In den Fokus treten hier insbesondere die schwierigen Lebenskonstellationen von Alleinerziehenden, die überproportional in den Hilfen zur Erziehung vertreten sind und dazu noch besonders auf staatliche finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Signalisiert wird somit über diese Daten, dass der Familienstatus „Alleinerziehend“ offenkundig Systeme öffentlicher Unterstützung in besonderer Weise benötigt. Zwar sollte die Lebensform „Alleinerziehend“ nicht durchweg als problematisch angesehen und vielmehr differenzierter betrachtet werden4, gleichwohl sind die zu bewältigenden Herausforderungen und Zuschreibungen vielfältig – Arbeitslosigkeit, Armut, Bildungsferne, fehlende soziale Unterstützung und Erschwernisse des Alltags mit Kindern5 – und können eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung gefährden. Vor diesem Hintergrund muss auch die sozialpolitische Seite dieser Ergebnisse zur Kenntnis genommen werden. Sozialstrukturelle Unterstützung, wie z.B. die Ausweitung und Flexibilisierung von Betreuungszeiten, um die Möglichkeit der Erwerbstätigkeit zu geben, können mitunter den genannten Herausforderungen entgegenwirken. Grundsätzlich sind hier unterschiedliche Akteure und Institutionen des Bildungs- und Sozialwesens aufgefordert, miteinander zu kooperieren, um präventiv und aktiv gegen Multiproblemlagen von jungen Menschen und deren Familien vorzugehen.6

Literatur:

Andresen, S. (2018): Fürsorge, Erziehung und Bildung im prekären Alltag Familien in Armutslagen und ihre Herausforderungen. In: Thon, C./Menz, M./Mai, M./Abdessadok, L. (Hrsg.): Kindheiten zwischen Familie und Kindertagesstätte. Differenzdiskurse und Positionierungen von Eltern und pädagogischen Fachkräften. Wiesbaden, S. 187-202.

Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik: Kinder- und Jugendhilfereport (2024). Eine kennzahlenbasierte Analyse mit einem Schwerpunkt zum Fachkräftemangel. Opladen u.a.

Binder, K./Bürger, U. (2013): Zur Bedeutung des Aufwachsens junger Menschen in spezifischen Lebenslagen für die Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen. In: Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe, H. 8-9, S. 320-330.

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Drucksache 17/12200. Berlin. 

Hammer, A. (2014): Befragung widerlegt Klischees über Alleinerziehende. In: Neue Caritas, H. 5, S. 21-24.

[ism] Institut für Sozialpädagogische Forschung Mainz gemeinnützige GmbH (2022): Kinder- und Jugendhilfemonitor Rheinland-Pfalz. 7. Landesbericht 2022. Mainz. Verfügbar über: www.ism-mz.de/fileadmin/uploads/Publikationen/Kinder-_und_Jugendhilfemonitor_RLP_2022.pdf [22.06.2024].

Lenze, A. (2021): Alleinerziehende weiter unter Druck. Bedarfe, rechtliche Regelungen und Reformansätze. Bertelsmann Stiftung. Gütersloh.

Müller, H. (2010): Armut – Auch ein Thema für die Hilfen zur Erziehung! Empirische Befunde und Entwicklungsperspektiven. In: Holz, G./Richter Kornweitz, A. (Hrsg.): Kinderarmut und ihre Folgen. Wie kann Prävention gelingen? München, S. 81-92.

[NZFH] Nationales Zentrum Frühe Hilfen (Hrsg.) (2020): Frühe Hilfen für Familien in Armutslagen. Empfehlungen. Beitrag des NZFH-Beirats. Köln. Verfügbar über: https://doi.org/10.17623/NZFH:K-FHfFA-Beirat; [11.06.2024].

Tabel, A./Erdmann, J./Fendrich, S./Mühlmann, T./Frangen, V./Göbbels Koch, P. (2023): HzE Bericht 2023. Datenbasis 2021. Entwicklungen bei der Inanspruchnahme und den Ausgaben erzieherischer Hilfen in Nordrhein-Westfalen. Münster.

  1. Vgl. Andresen 2018; Deutscher Bundestag 2013, S. 107ff.; Müller 2010
  2. Vgl. Tabel u.a. 2023, S. 51ff.; ism 2022, S. 122ff.
  3. Vgl. Autor:innengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2024, S. 89ff.
  4. Vgl. Binder/Bürger 2013; Lenze 2021
  5. Vgl. Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung 2024, S. 47ff.
  6. Vgl. z.B. das NRW-Projekt „kinderstark – NRW schafft Chancen“ zum Aufbau und Stärkung kommunaler Präventionsketten (www.kinderstark.nrw; Zugriff: 03.06.2024); NZFH 2020; Hammer 2014