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2. Inanspruchnahme und Adressat:innen der erzieherischen Hilfen

2.1 1.127.869 junge Menschen und ihre Familien erhielten 2021 erzieherische Hilfen

Ende Oktober 2022 hat das Statistische Bundesamt die Daten zu den Hilfen zur Erziehung 2021 veröffentlicht. Demnach wurden rund 957.600 erzieherische Hilfen für unter 27-Jährige gezählt – rund 5.400 Fälle (-1%) weniger als im Vorjahr. Damit ist die Zahl dieser Unterstützungsleistungen nach einem starken Rückgang im Jahr 2020 nahezu konstant geblieben. Der kontinuierliche Anstieg der Hilfezahlen im letzten Jahrzehnt, bei dem 2018 sogar die 1 Million-Grenze überschritten wurde, setzt sich demnach weiterhin nicht fort.

Richtet man den Blick auf die mit den Hilfen erreichten jungen Menschen – zuvor wurde die Entwicklung der Fälle bzw. der Anzahl der Hilfen betrachtet – zeigt sich ebenfalls eine annähernd konstante Entwicklung mit einer nur leichten Steigerung gegenüber dem Vorjahr: Im Jahr 2021 wurden insgesamt 1.127.869 junge Menschen mit erzieherischen Hilfen gezählt; 6.000 mehr als im Vorjahr (+1%). Setzt man diese Zahl in Relation zur Bevölkerung, wurden 2021 – statistisch betrachtet – 693 junge Menschen pro 10.000 der unter 21-Jährigen von Hilfen zur Erziehung erreicht und somit mehr als im Vorjahr. Damit haben 7% der jungen Menschen dieser Altersgruppe eine Art von erzieherischer Hilfe erhalten.

Ohne Erziehungsberatungen, die einen großen Teil der erzieherischen Hilfen ausmachen, wurden 2021 seitens der Jugendämter 693.767 junge Menschen gezählt, die von einer erzieherischen Hilfe erreicht wurden. Das sind etwa 2% mehr als im Vorjahr. Damit steigt die Zahl der erreichten jungen Menschen in über den ASD organisierten Hilfen (ohne Erziehungsberatung) nach einem Rückgang 2020 wieder an. Für den Zeitraum zwischen 2010 und 2021 betrug der Zuwachs der jungen Menschen in über die Allgemeinen Sozialen Dienste organisierten Hilfen (ohne Erziehungsberatung) 30%. Der Anstieg zwischen den Jahren ist zwischen 2015 und 2016 mit 5% am höchsten, darüber hinaus wurden Veränderungen zwischen +1% und +4% beobachtet.

Differenziert man die jungen Menschen nach Minderjährige und junge Volljährige, so zeichnen sich unterschiedliche Entwicklungen in der Inanspruchnahme von Erziehungshilfen ab. Deutlich wird das in der Betrachtung der Inanspruchnahmequote beider Altersgruppen, bei der die Fallzahlen auf die Zahl der jeweiligen jungen Menschen in der Bevölkerung bezogen werden. Während sich die Inanspruchnahme von Hilfen für junge Volljährige zwischen 2020 und 2021 weiter reduziert hat und sich der Trend seit 2018 damit weiter fortsetzt, hat sich die Inanspruchnahme bei Minderjährigen im Vergleich zum Vorjahr kaum verändert. Betrachtet man ferner die bevölkerungsbezogene Entwicklung in den „ASD-Hilfen“ – also Erziehungshilfen ohne Erziehungsberatung –, so wird der rückläufige Trend für die jungen Volljährigen bestätigt (- 4.011 Fälle 2021 im Vergleich zu 2020). Dieser Rückgang ist unter anderem auf ehemalige unbegleitete ausländische Minderjährige zurückzuführen, die nach der starken Zuwanderung in den Jahren 2015 und 2016 mit zunehmendem Alter das Jugendhilfesystem wieder verlassen1. Dieser Trend zeigt sich seit 2017 und hält weiterhin an. Bei den unter 18-Jährigen wird demgegenüber mit einem Plus von 7 Inanspruchnahmepunkten nicht nur eine steigende Inanspruchnahme im Vergleich zu 2020, sondern auch ein neuer Höchststand erkennbar.

ABB. 2.1:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) (Deutschland; 2010 bis 2021; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Steigende Fallzahlen bei ambulanten Hilfen, rückläufige Fallzahlen bei Erziehungsberatung und Fremdunterbringung

Die Verteilung der Leistungssegmente hat sich im Jahr 2021 im Vergleich zum Vorjahr leicht verändert. Das Segment der über die Allgemeinen Sozialen Dienste organisierten ambulanten Hilfen (§ 27 in Verbindung mit §§ 29-32, 35 SGB VIII inklusive der „27,2er-Hilfen - ambulant“ sowie einschließlich der entsprechenden Hilfen für junge Volljährige gem. § 41 SGB VIII) umfasst 2021 mit insgesamt 478.748 erreichten jungen Menschen den größten Anteil an Hilfen (42%). Der Abstand zum zweitgrößten Segment der Erziehungsberatung (39%) hat sich gegenüber 2020 etwas vergrößert. Das dritte Leistungssegment der Fremdunterbringungen hat mit 215.019 erreichten jungen Menschen im Jahr 2021 einen Anteil von 19% am Gesamtvolumen. Diese absoluten Zahlen der Leistungsbereiche machen sich auch bei der Inanspruchnahme der Leistungen bemerkbar. Im Jahr 2021 nahmen 294 pro 10.000 der unter 21-Jährigen eine ambulante Maßnahme in Anspruch. Bei den Fremdunterbringungen sind es mit 132 jungen Menschen pro 10.000 derselben Altersgruppe deutlich weniger. Erziehungsberatung haben 267 junge Menschen pro 10.000 der unter 21-jährigen und deren Familien in Anspruch genommen.

Die aktuell leicht gestiegene, aber annähernd konstante, Entwicklung bei den erreichten jungen Menschen im Jahr 2021 gegenüber dem Vorjahr ist bedingt durch zwei Faktoren: Zum einen durch steigende Fallzahlen im ambulanten Bereich und zum anderen durch rückläufige Fallzahlen in der Erziehungsberatung sowie der Fremdunterbringung (vgl. Abb. 2).

Im Bereich der ambulanten Hilfen zur Erziehung setzt sich das Wachstum aus der Zeit vor der Pandemie – nach einem Rückgang in 2020 – im zweiten Coronajahr wieder fort. Der prozentuale Zuwachs von etwa 4% knüpft jedoch nicht an die Wachstumsdynamik des Zeitraums zwischen 2015 und 2018 an (jährlich +5% bis +7%). Die Steigerung bei den durch ambulante Hilfen erreichten jungen Menschen in 2021 liegt insbesondere an familienorientierten Hilfen, wie den „27,2er-Hilfen“ und den Sozialpädagogischen Familienhilfen, welche in diesem Jahr häufiger neu begonnen wurden.2 Vor dem Hintergrund der zunehmenden Belastung von Kindern und Jugendlichen sowie ihren Eltern im Zuge der Pandemie können diese Hilfen eventuell als Reaktion auf diese Entwicklung von Seiten des ASD gesehen werden.3 Es ist jedoch auch plausibel, dass die aktuelle Steigerung bei den ambulanten Hilfen auf die Lockerungen von Kontaktbeschränkungen in 2021 zurückzuführen ist.

Im Gegensatz dazu wurden mit der Erziehungsberatung 2021 etwa 1% weniger junge Menschen erreicht (-4.350 Fälle) als im Vorjahr. Damit hat sich der Rückgang aus dem Jahr 2020 zwar abgeschwächt, setzt sich aber 2021 weiterhin fort. Dieser leichte Rückgang ergibt sich vor allem aus den beendeten Hilfen (-3%). Im ersten Pandemiejahr hat sich die Tendenz gezeigt, Hilfen eher fortzuführen als zu beenden4. Eventuell wurden im zweiten Pandemiejahr diese zunächst fortgeführten Hilfen nun beendet. Im Jahr 2021 hat sich jedoch gleichzeitig gezeigt, dass im Vergleich zu 2020 wieder mehr Erziehungsberatungen begonnen wurden (+2%). Es kann jedoch sein, dass nicht alle tatsächlich durchgeführten Beratungen statistisch erfasst wurden. Die in der Pandemie aufgrund der weiterhin anhaltenden Kontaktbeschränkungen erweiterten Beratungsformen wie z.B. die telefonische Beratung werden statistisch erst ab dem Erhebungsjahr 2022 erfasst.

Auch über die Fremdunterbringung wurden 2021 weniger junge Menschen erreicht als im Vorjahr (-3%). Somit setzt sich in diesem Leistungssegment der rückläufige Trend der Vorpandemiezeit seit 2018 weiter fort. Dieser ist zum Großteil auf die seit einigen Jahren rückläufigen Fallzahlen der unbegleiteten ausländischen Minderjährigen insbesondere in der stationären Unterbringung zurückzuführen.

ABB. 2.2:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Leistungssegmenten (Deutschland; 2010 bis 2021; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

Die bundesweite Entwicklung der erzieherischen Hilfen seit Beginn der 2000er-Jahre ist durch einen kontinuierlichen Zuwachs im ambulanten Leistungsfeld gekennzeichnet. Zumindest bis 2010 war ein Fortschreiten dieses Trends auszumachen. Danach war der Zuwachs bei den ambulanten Hilfen nicht mehr so stark ausgeprägt. Zwischen 2014 und 2016 haben dagegen vor allem Fremdunterbringungen zugenommen (vgl. Abb. 2.3):

  • Die Zahl der Hilfen zur Erziehung hat sich zwischen 2000 und 2019 um 59% bzw. 59 Indexpunkte erhöht. Der Anstieg ist in dieser Dekade vor allem zwischen 2005 und 2010 mit einem Plus von 24 Indexpunkten auszumachen. Nach einem Rückgang der Hilfezahlen im Jahr 2020 (-7 Indexpunkte) blieben diese im Jahr 2021 konstant. Zwischen 2000 und 2021 hat sich die Zahl der Hilfen zur Erziehung entsprechend um 52% erhöht.
  • Mit Blick auf die einzelnen Leistungssegmente wird zwischen 2000 und 2010 vor allem der Zuwachs an ambulanten Hilfen deutlich, die sich mehr als verdoppelt haben. Das bedeutet eine Zunahme um 105 Indexpunkte. Vor allem zwischen 2005 und 2010 ist ein besonders deutlicher Anstieg auszumachen (75 Indexpunkte). Von 2015 bis 2020 hat ein stärkerer Zuwachs um 36 Indexpunkte stattgefunden auf insgesamt 255 Indexpunkte. Nachdem ambulante Hilfen 2020 zurückgegangen waren, stiegen die Hilfezahlen 2021 wieder an und erreichten einen neuen Höchststand von 263 Indexpunkten.
  • Fremdunterbringungen sind bis 2005 relativ konstant geblieben bzw. sogar leicht zurückgegangen. Zwischen 2000 und 2010 hat sich der Indexwert mit dem Basisjahr 2000 um 10 Punkte auf 110 erhöht. In den vergangenen Jahren war ein Anstieg der Fremdunterbringungen bis 2017 erkennbar. In den letzten Jahren zeigt sich jedoch wieder eine Abnahme. Aktuell liegt der Indexwert im Vergleich zum Jahr 2000 bei 137 Punkten (im Vergleich zum Vorjahr -5 Indexpunkte). Trotz der Steuerungsstrategien der Jugendämter Anfang der 2000er-Jahre ist die Fremdunterbringung im Kontext der erzieherischen Hilfen in den letzten Jahren zwischenzeitlich wieder angestiegen, wenngleich die Zunahmen auf die gestiegene Zahl an unbegleiteten ausländischen Minderjährigen (UMA) vor allem in den Jahren 2015 und 2016 zurückzuführen sind. Die Unterbringung sowie die Betreuung und Förderung dieser jungen Menschen wurde aufgrund ihrer Lebenssituation vor allem in stationären Settings der Kinder- und Jugendhilfe organisiert.
  • Die Fallzahlen in der Erziehungsberatung sind im Zeitraum von 2000 bis 2020 um 5 Indexpunkte gestiegen. Allerdings lag der Indexwert 2019 noch bei 116 Punkten, was einem starken Rückgang im Jahr 2020 entspricht. Auch im Jahr 2021 hält dieser Rückgang an (-3 Indexpunkte im Vergleich zum Vorjahr). Damit liegt die Zahl der Erziehungsberatungen auf einem nur leicht höheren Niveau als im Jahr 2000 (+2 Indexpunkte).
ABB. 2.3:

Veränderung der Inanspruchnahme erzieherischer Hilfen gem. §§ 28-35 SGB VIII (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Leistungssegmenten (Deutschland; 2000 bis 2021; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Indexentwicklung 2000 = 100)1, 2

1) Die Werte basieren auf der Anzahl der jungen Menschen, die durch eine Leistung der Hilfen zur Erziehung erreicht werden, und nicht auf der Anzahl der Hilfen. Dies betrifft die Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII). In der amtlichen Statistik werden für die Hilfen gem. § 31 SGB VIII sowohl die Anzahl der Hilfen als auch die durch die SPFH erreichten jungen Menschen erfasst. Berücksichtigt werden hier die unter 18-Jährigen, weil vor der Modifizierung der Statistik im Jahr 2007 lediglich die unter 18-Jährigen bei dieser Hilfeart erfasst worden sind.
2) Bei der Erziehungsberatung werden lediglich die beendeten Hilfen berücksichtigt. Erst seit 2007 werden bei den Hilfen gem. § 28 SGB VIII auch die zum 31.12. eines Jahres andauernden Hilfen erfasst. Im Sinne der Vergleichbarkeit werden für 2010, 2015 und 2020 ebenfalls nur die beendeten Hilfen aufgeführt. Aus demselben Grund werden die Hilfen gem. § 27 SGB VIII (ohne Verbindung zu Hilfen gem. §§ 28-35 SGB VIII), die sogenannten „27,2er-Hilfen“, für diese Jahre nicht mitberücksichtigt; auch sie werden erst seit 2007 erfasst. Die Zahl der jungen Menschen mit einer „27,2er-Hilfe“ beträgt im Jahr 2021: 90.462.
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; versch. Jahrgänge; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

2.1.1 Die Verteilung der Hilfearten im Angebotsspektrum der Hilfen zur Erziehung

Das Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung zeichnet sich durch ein breites Spektrum an beratenden, erziehenden und betreuenden Angeboten aus. Die Ausdifferenzierung der verschiedenen Angebote war Teil der damaligen zentralen Neuerungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vor etwa 30 Jahren. In der Folge sind die Hilfezahlen seit Anfang der 1990er-Jahre gestiegen und die rechtlich kodifizierten Leistungen haben sich in den lokalen Hilfesystemen etabliert. Die aktuelle Verteilung der Hilfearten verdeutlicht das heterogene Leistungsspektrum der Hilfen zur Erziehung, welches sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert hat (vgl. Abb. 2.4):

  • Die aktuelle prozentuale Verteilung der Hilfearten verweist auf die quantitative Bedeutung der Erziehungsberatung, die mit einem Anteil von 39% einen großen Teil aller erzieherischen Hilfen ausmacht.
  • Mit Blick auf die ambulanten Hilfen zeigt sich das erhebliche Gewicht der Sozialpädagogischen Familienhilfe (SPFH). Aktuell werden 25% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung von dieser familienorientierten Leistung erreicht. Mit deutlichem Abstand folgen mit rund 8% die ambulanten „27,2er-Hilfen“ sowie Erziehungsbeistandschaften, die 5% aller erzieherischen Hilfen ausmachen. Demgegenüber nehmen soziale Gruppenarbeit, Betreuungshilfen, Erziehung in einer Tagesgruppe sowie intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung (ISE) mit anteiligen Werten, die zwischen 1% und 2% liegen, eine vergleichsweise geringe Größe im ambulanten Leistungssegment ein.
  • 20% der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung lebten 2021 im Rahmen einer Fremdunterbringung in einem stationären Setting oder in einer Pflegefamilie. Zahlenmäßig verteilen sich die Fremdunterbringungen zu etwa 11% auf die Heimerziehung und zu 8% auf die Vollzeitpflege. Einen geringen Anteil von unter 1% nehmen stationäre „27,2er-Hilfen“ ein.
Abb. 2.4:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) nach Hilfearten (Deutschland; 2021; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben in %, N = 1.127.869)

* Einschließlich der sonstigen Hilfen
Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige 2021; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

2.1.2 Die Inanspruchnahme nach Ländern

Mittels der Datengrundlage der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik lassen sich auch Differenzen auf der Ebene der west- und ostdeutschen Landesteile sowie der Länder abbilden. Dabei ist Folgendes für die Leistungssegmente zu konstatieren (vgl. Abb. 2.5):

  • Erziehungsberatungen: Die bundesweite Verteilung der Leistungssegmente, bei denen Erziehungsberatungen einen großen Anteil an den Hilfen zur Erziehung ausmachen (vgl. Abb. 2.2; Abb. 2.5), gilt tendenziell auch für West- und Ostdeutschland. Mit Blick auf die Länder zeigt sich allerdings eine enorme Spannweite der Inanspruchnahme von Beratungsleistungen. In den westdeutschen Flächenländern reicht diese von 146 pro 10.000 der unter 21-Jährigen im Saarland bis hin zu 378 pro 10.000 der genannten Altersgruppe in Schleswig-Holstein. Das ist gleichzeitig der höchste Wert aller Länder. Auch die ostdeutschen Länder weisen eine erheblich unterschiedliche Inanspruchnahme der Erziehungsberatung von 162 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Mecklenburg-Vorpommern bis hin zu 338 in Sachsen auf. In den Stadtstaaten reicht die Spannweite von 147 pro 10.000 unter 21-Jährige in Bremen bis hin zu 338 in Berlin.
  • Ambulante Hilfen: In allen Ländern werden mehr ambulante Leistungen als Fremdunterbringungen in Anspruch genommen. In den westdeutschen Flächenländern reicht die Spannweite der ambulanten Leistungen von 182 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Bayern bis hin zu 373 im Saarland. Unter den Stadtstaaten weist Berlin mit 528 pro 10.000 der jungen Menschen unter 21 Jahren ebenfalls den höchsten Wert mit Blick auf die Inanspruchnahme von ambulanten Hilfen auf. In Ostdeutschland reicht die Spannweite der Hilfegewährung ambulanter Hilfen bevölkerungsbezogen von 232 pro 10.000 der unter 21-Jährigen in Thüringen bis hin zu 480 in Mecklenburg-Vorpommern.
    Auch zeigen sich Differenzen im Verhältnis von Fremdunterbringungen und ambulanten Hilfen, das einerseits in Thüringen und Sachsen Anhalt bei 1 zu 1,5 und andererseits in Baden-Württemberg bei 1 zu 3,2 liegt.
  • Fremdunterbringungen: Eine vergleichsweise eher geringe Inanspruchnahme von Fremdunterbringungen ist in den westdeutschen Ländern Bayern und Baden-Württemberg (74 bzw. 82 pro 10.000 unter 21-Jährige) festzustellen. Demgegenüber ist im Stadtstaat Berlin (193) und in Sachsen-Anhalt (202) eine höhere Inanspruchnahme der kostenintensiven Fremdunterbringung zu ermitteln, was auf eine höhere Problembelastung der Regionen verweist. Darüber hinaus sind hier tendenziell auch beträchtlichere Werte an ambulanten Leistungen zu identifizieren und damit ein insgesamt höheres Volumen an erzieherischen Hilfen.
ABB. 2.5:

Junge Menschen in den Hilfen zur Erziehung (einschl. der Hilfen für junge Volljährige) (Länder; 2021; Aufsummierung der zum 31.12. eines Jahres andauernden und der innerhalb eines Jahres beendeten Leistungen; Angaben absolut, Inanspruchnahme pro 10.000 der unter 21-Jährigen)

Quelle: Statistisches Bundesamt: Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe – Erzieherische Hilfe, Eingliederungshilfe, Hilfe für junge Volljährige; 2021; Datenzusammenstellung und Berechnungen der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik

2.1.3 Zusammenfassung

Mehr als 1 Million junge Menschen werden durch Hilfen zur Erziehung pro Jahr erreicht. In jedem einzelnen Fall sind die jeweiligen Hilfen eine Reaktion des Hilfesystems auf soziale Benachteiligungen bzw. individuelle Beeinträchtigungen von Kindern, Jugendlichen und jungen Volljährigen, die dazu führen, dass Teilhabe – oder konkreter: eine dem Wohl des Kindes entsprechende Erziehung – bei den einzelnen jungen Menschen nicht mehr gewährleistet ist. Damit erfüllt die Kinder- und Jugendhilfe einen wichtigen Teil ihres vom Gesetzgeber vor etwa 30 Jahren rechtlich vorgeschriebenen Handlungsauftrags.

Nicht alle Veränderungen in dem Arbeitsfeld sind dabei auf mittelbare oder unmittelbare Auswirkungen des SGB VIII zurückzuführen. So prägten rückblickend diverse Fachdiskurse dieses Arbeitsfeld der Kinder- und Jugendhilfe – beispielsweise eine in unterschiedlicher Intensität geführte Kinderschutzdebatte seit Mitte der 2000er-Jahre oder auch die Diskussion um die Weiterentwicklung und eine zielgenauere Steuerung der erzieherischen Hilfen ab 2011, die zuletzt auch wieder im Rahmen eines Modernisierungsdiskurses zur Kinder- und Jugendhilfe aufgegriffen wurde.5 Auch gesellschaftliche Anforderungen haben in den Erziehungshilfen ihre Spuren hinterlassen, wie der um 2015/16 stark angestiegene Bedarf an Unterbringung, Versorgung und Betreuung junger Menschen, die unbegleitet nach Deutschland geflüchtet sind.6 Die erzieherischen Hilfen haben sich infolgedessen insbesondere auch aufgrund des individuellen Rechtsanspruchs als eine wichtige Hilfe für junge Menschen und ihre Familien in prekären Situationen etabliert.

Seit Ende 2018 standen die Hilfen zur Erziehung, aber auch die Hilfen für junge Volljährige im Rahmen des Dialogprozesses zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe mit den Themenschwerpunkten Kinderschutz, Inklusion, Fremdunterbringung und Sozialraumorientierung erneut im Vordergrund der Fachdebatte. Die umfangreiche Reform im Rahmen des im 10.06.2021 in Kraft getretenen „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ (KJSG) einhergehend mit Veränderungen von zentralen Elementen der Kinder- und Jugendhilfe wie 1. der Verbesserung des Kinder- und Jugendschutzes, 2. der Stärkung von Kindern und Jugendlichen, die in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Erziehungshilfe aufwachsen, 3. der Hilfe aus einer Hand für Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung im Sinne einer schrittweisen Weiterentwicklung hin zu einer inklusiven Kinder- und Jugendhilfe, 4. der Prävention vor Ort sowie 5. der Stärkung von Beteiligungschancen von jungen Menschen, Eltern und Familien wird auch auf die Hilfen zur Erziehung in den kommenden Jahren Einfluss haben.7

Aktuell ist das Feld der Hilfen zur Erziehung mit mehreren Herausforderungen konfrontiert. Zentrale Änderungen sind mit den oben beschriebenen rechtlichen Rahmenbedingungen verbunden, welche sich auf die Ausgestaltung der Hilfen auswirken. Die Coronapandemie hat an die erzieherischen Hilfen neue Anforderungen gestellt und wirkt sich auch weiterhin auf die Jugendhilfe aus. Die mit der Pandemie verbundenen Kontaktbeschränkungen haben mitunter Anpassungen in der Ausgestaltung der Hilfen notwendig gemacht. Ein Beispiel ist die Zunahme von Beratungen in digitalen Beratungssettings und die hierfür notwendigen konzeptionellen und organisatorischen Weiterentwicklungen.8 Aber auch andere Leistungsbereiche waren von Veränderungen in der Gestaltung des Hilfesettings oder der Intensität der Leistungen betroffen, z.B. bei coronabedingten Einschränkungen wie Kontaktbeschränkungen bei ambulanten Gruppenangeboten oder Angebote in Kooperation mit Bildungsinstitutionen, bei denen Schulschließungen eine Rolle spielten.Eine weitere Herausforderung liegt im Bereich der unbegleiteten minderjährigen Ausländer:innen (UMA). Seit 2021 steigen die Inobhutnahmen in dieser Gruppe wieder an, was auch in den Erziehungshilfen spürbar ist.10 Der zu Beginn des Jahres 2022 begonnene russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat ebenfalls Auswirkungen auf die Erziehungshilfen. Die große Anzahl an geflüchteten Kindern und Jugendlichen, die vorwiegend in Begleitung ihrer Mütter nach Deutschland kommen, müssen in diverser Form unterstützt werden – sei es bei der schulischen Bildung, der Integration in den Arbeitsmarkt oder bei der Bewältigung traumatischer Erlebnisse.

Angesichts der anhaltenden Dynamik sowie wechselnder Trends im Arbeitsfeld ist ein differenzierter und regelmäßiger Blick auf die Datengrundlage zur Beobachtung der aktuellen Entwicklungen von zentraler Bedeutung. Die weitere Entwicklung der Fallzahlen und Inanspruchnahmen bleibt vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Herausforderungen weiterhin offen. Ungeachtet jedoch der in den nächsten Jahren zu erwartenden Inanspruchnahmequoten werden auch in den nächsten Jahren die Hilfen zur Erziehung eine wichtige Unterstützungsleistung für junge Menschen und deren Familien sein. Die Gründe hierfür hat bereits die Sachverständigenkommission zum 14. Kinder- und Jugendbericht herausgearbeitet, in dem sie auch im Zusammenhang mit dem Arbeitsfeld der Hilfen zur Erziehung eindrücklich die „Verschiebungen zwischen privater und öffentlicher Verantwortung im Aufwachsen von jungen Menschen in Deutschland“11 beschrieben hat. Dass der Auftrag der Hilfen zur Erziehung in diesem Zusammenhang umfassend ist, hat auch die Sachverständigenkommission zum 15. Kinder- und Jugendbericht noch einmal in Erinnerung gerufen: „Hilfen zur Erziehung (…) sollen für junge Menschen sozialpädagogische Umgebungen gestalten, die keine ausreichende soziale, emotionale und materielle Unterstützung erfahren, die in ihren persönlichen Rechten verletzt, Machtmissbrauch oder Gewalt erfahren haben, diskriminiert oder ausgegrenzt worden sind.“12

 

Literatur:

[BMFSFJ] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): Abschlussbericht Mitreden – Mitgestalten. Die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe. Berlin.

Böwing-Schmalenbrock, M./Olszenka, N. (2021): Kinder- und Jugendhilfe im Überblick. In: Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport Extra 2021. Dortmund, S. 12-15.

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin. Drucksache 17/12200.

Deutscher Bundestag (Hrsg.) (2017): 15. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Unterrichtung durch die Bundesregierung und Stellungnahme der Bundesregierung. Berlin. Bundestagsdrucksache 18/11050.

Erdmann, J./Fendrich, S. (2022): Rückgänge bei den ambulanten erzieherischen Hilfen im Jahr 2020. In: KomDat Jugendhilfe, 25. Jg., H. 1, S. 8-12.

Fendrich, S./Tabel, A. (2021): Hilfen zur Erziehung (§§ 27 bis 35, 41 SGB VIII). In: Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik (Hrsg.): Kinder- und Jugendhilfereport Extra 2021. Dortmund, S. 21-25.

Mairhofer, A./Peucker, C./Pluto, L./van Santen, E./Seckinger, M. (2020): Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der Corona-Pandemie. DJI-Jugendhilfeb@rometer bei Jugendämtern. München. Verfügbar über: www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2020/1234_DJI-Jugendhilfebarometer_Corona.pdf; [26.08.2022].

Mühlmann, T. (2022): Inobhutnahmen 2021 – weniger aus Familien, mehr unbegleitete Minderjährige. In: KomDat Jugendhilfe, 25. Jg., H. 2, S. 6-8.

Tabel, A. (2020): Empirische Standortbestimmung der Heimerziehung. Fachwissenschaftliche Analyse von Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik. Frankfurt am Main.

Tabel, A./Frangen, V. (2022): Konsolidierung der Hilfen zur Erziehung im Jahr 2021. In: KomDat Jugendhilfe, 25. Jg., H. 3, S. 4-7.

Wiesner, R. (2016): Reform oder Rolle rückwärts? Zu den Ankündigungen des BMFSFJ hinsichtlich der Weiterentwicklung des Kinder- und Jugendhilferechts. Vortrag im Rahmen der Veranstaltung „Vom Kind aus denken?! Inklusives SGB VIII“ am 14.06.2016 in Frankfurt am Main.

Witte, S./Kindler, H. (2022): Kinderschutz in Zeiten von Corona – Informelle Angebote und niederschwellige ambulante Hilfen während der Pandemie. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung, 17. Jg., H. 1, S. 57-71.

  1. Erdmann, J./Fendrich, S. (2022): Rückgänge bei den ambulanten erzieherischen Hilfen im Jahr 2020. In: KomDat Jugendhilfe, 25. Jg., H. 1, S. 8-12.
  2. Vgl. Tabel/Frangen 2022.
  3. Vgl. Witte/Kindler 2022
  4. Vgl. Erdmann/Fendrich 2022
  5. Vgl. u.a. Wiesner 2016; BMFSFJ 2020
  6. Vgl. Tabel 2020
  7. Vgl. Böwing-Schmalenbrock/Olszenka 2021
  8. Vgl. Fendrich/Tabel 2021
  9. Vgl. Mairhofer u.a. 2020
  10. Vgl. Mühlmann 2022
  11. Deutscher Bundestag 2013, S. 336
  12. Deutscher Bundestag 2017, S. 434